Photo: FrankBothe, 2016, CC-BY-SA 4.0

Bad Gandersheim – Kanonissenstift (Reichsstift)

Existenz: 852 bis 1810
Heutiges Gebiet: Stadt Bad Gandersheim, Landkreis Northeim.
Orden/Art: Kanonissenstift, dann freiweltliches Damenstift
Damalige kirchliche/weltliche Zugehörigkeit: Diözese Hildesheim; Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel, bei Aufhebung: Königreich Westphalen

Der Adlige Liudolf und seine Gemahlin Oda gründeten 852 einen Sanktimonialenkonvent in Brunshausen. Die Kanonissen zogen später in die neu errichtete Stiftskirche Gandersheim um, die am 1. November 881 vom Hildesheimer Bischof Wigbert geweiht wurde. Gandersheim blieb der zentrale Ort für das vorkönigliche liudolfingische Totengedächtnis. Eine umfangreiche Stiftungsausstattung und zusätzliche Rodungstätigkeit führten dazu, dass das Stift der bedeutendste Grundbesitzer in der Heberbörde wurde. Schenkungen erweiterten den Besitz um die Zentren Großenehrich und Tennstedt (thüringische Güter) sowie um die rheinischen Güter Crucht bei Friesdorf und Plittersdorf bei Godesberg, welche für die Versorgung der Kanonissen mit Wein eine wichtige Rolle spielten. Das Stift verfügte über Markt- und Münzrecht in Gandersheim.
Gegenüber den Reformbestrebungen der Hildesheimer Bischöfe konnte Gandersheim als einziges Kanonissenstift seine freie Verfassungsform erhalten. Zu den Klosterämtern gehörten: Äbtissin (erstmals genannt 852), Pröpstin (874), Dekanin (874), Küsterin (874), Scholastica (1215). Seit Mitte des 15. Jahrhunderts leitete der Senior das Kanonikerkapitel. Geistliche Ämter: Küster (ca. 1196), Organist (1426), Schulmeister (1335). – Weltliche Ämter: 1188 finden sich in Begleitung der Äbtissin Adelheid alle vier Hofämter (Marschall, Truchseß, Schenk und Kämmerer) sowie drei weitere Ministeriale. Das sonstige Abteipersonal (Hofmeister, Bäcker, Köche, Müller, Brauer etc.) bestand Mitte des 13. Jahrhunderts aus 21 Personen. Äbtissin und Kapitel strebten die unmittelbare Unterstellung ihres Stifts unter den Papst an, um der Bedrohung ihrer Autonomie seitens der Bischöfe von Hildesheim entgegenzuwirken. Der mehrere Jahre andauernde Prozess mündete 1206 in einem Exemtionsprivileg Papst Innozenz’ III., das die Rechtsgewalt des Bischofs aufhob, die Zugehörigkeit Gandersheims zur Römischen Kirche klarstellte und eine umfangreiche Besitzbestätigung sowie die Verleihung der freien Äbtissinnenwahl beinhaltete.
Von herausragender Bedeutung waren Christusreliquien, für die eigene Altäre errichtet wurden: ein Splitter vom hl. Kreuz, an dem das Blut des Herrn haftete, den Kaiser Arnulf anlässlich seiner Krönung (894/96) vom Papst empfangen und auf Rat seiner Gattin Uta nach Gandersheim gestiftet haben soll, sowie eine Heilig-Blut-Reliquie, deren Erwerb auf König Ludwig den Jüngeren zurückgeführt wird. Spätestens im ausgehenden Mittelalter feierte das Stift ein Reliquienfest, bei dem der gesamte mobile Reliquienschatz öffentlich präsentiert wurde.
Bereits in der Frühzeit existierte eine Schule für die Ausbildung der jungen Kanonissen. Das Amt der Scholastica wird nach 1426/27 nicht mehr genannt. Daneben gab es eine Außenschule für männliche Schüler. Das Amt des Schulmeisters kommt erstmals 1335 vor. 1800 wurde die Umwandlung der Stiftsschule in eine Volks- und Bürgerschule eingeleitet.
Tochtergründungen waren das Benediktinerinnenkloster St. Marien vor Gandersheim, gegründet zwischen 939 und 973; das Benediktinerkloster Clus, gegründet vor 1127, und das Benediktiner-, später Benediktinerinnenkloster Brunshausen, gegründet vor 1134. Das Stift übte die pfarrkirchlichen Funktionen für alle Angehörigen des Reichsstifts selbst aus. Einen vollständigen Überblick über die zahlreichen Patronatsrechte des Stifts bieten die Quellen nicht. Zusammenstellungen um 1568/69 nennen Ellierode mit Filialkirche Wiershausen, Harriehausen (halb), Opperhausen, Rittierode, Ahlshausen, Seesen (St. Andreas), Rhüden, Königsdahlum, Bornum, Schlewecke, Banteln und Gieboldehausen.
Spätestens Mitte der 1270er Jahre war die komplette Vogtei über das Reichsstift, seine Eigenklöster und die Stadt Gandersheim in der Hand Herzog Albrechts I. von Braunschweig. Die Äbtissinnen verloren in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts weitgehend ihre alte Herrschaft über die Stadt Gandersheim. Unter Herzog Heinrich dem Jüngeren von Braunschweig-Wolfenbüttel (1514-1568) erreichte der Druck der Landesherrschaft seinen Höhepunkt. Unter formeller Anerkennung der Reichsunmittelbarkeit behandelte der Landesfürst Gandersheim in der Praxis wie die übrigen Stifte und Klöster seines Landes.
Nach der Besetzung des Herzogtums 1542 durch schmalkaldische Truppen kam es zur zwangsweisen Einführung der Reformation gegen erheblichen Widerstand des Stiftes. Erst nach dem Tod der letzten katholischen Äbtissin Margarete von Chlum (†1589) war das Stift vollständig evangelisch. Im Dreißigjährigen Krieg wurde das Gandersheimer Gebiet durch zahlreiche Kämpfe schwer heimgesucht. 1625 flüchteten Äbtissin, Dekanin und Kanonissen nach Wolfenbüttel. Mehr als 20 Jahre sollte die Abwesenheit dauern. Das Kapitel erließ 1649 eine neue Wahlkapitulation, die die Äbtissin zur ständigen Residenz verpflichtete. Die bedeutendste Gandersheimer Äbtissin der Neuzeit war Elisabeth Ernestine Antonie von Sachsen-Meiningen (1713-1766), die das ehemalige Eigenkloster Brunshausen als Sommerresidenz herrichten ließ, die Errichtung einer neuen Stiftsbibliothek initiierte und förderte sowie das Stiftsarchiv neu ordnen ließ. Im Zuge der Säkularisation gab das Stift 1802/03 nach neuneinhalb Jahrhunderten seine Reichsunmittelbarkeit auf und erkannte die Landeshoheit des Hauses Braunschweig-Wolfenbüttel an. Ein königliches Dekret verfügte im Dezember 1810 die Aufhebung des Stifts.
Die Stiftskirche bildete das Zentrum des Stiftsbezirkes, einer sich stets verändernden komplexen Anlage mit Kreuzgang, Abteigebäude, mit Wirtschaftsgebäuden und Kurien sowie der Stiftsschule, gruppiert um drei große Höfe sowie einen Abteigarten und umgeben von einer Mauer. Kirche und einige weitere Gebäude sind heute noch erhalten.
Die älteste heute vorhandene Glocke ist die Glocke „Nikolaus“ von 1513 in der Stiftskirche zwischen den beiden Westtürmen. Erhalten haben sich zwei Altarretabeln aus der Stiftskirche: das Retabel vom Bartholomäusaltar (Ende 15./Anfang 16. Jh.) und ein Marienretabel (Anfang 16. Jh.); in Gandersheim verblieben nur wenige kostbare Objekte des Kirchenschatzes, unter anderem ein schnitt- und schliffdekorierter Bergkristallflakon mit Heilig-Blut-Reliquie (um 1000), das Fragment eines hölzernen Tragaltares (11. Jh.) und ein intarsienverziertes Holzkästchen mit Walmdachdeckel (12. Jh.).

Literatur: Christian Popp, Artikel (Bad) Gandersheim – Kanonissenstift (Reichsstift), in: Niedersächsisches Klosterbuch. Verzeichnis der Klöster, Stifte, Kommenden und Beginenhäuser in Niedersachsen und Bremen von den Anfängen bis 1810, herausgegeben von Josef Dolle unter Mitarbeit von Dennis Knochenhauer, (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen Band 56,1), Bielefeld 2012, S. 433-450.

Germania Sacra: 70

GND: [6064449-7]

FemMoData: 750

Bearbeiterin: Leonie Bunnenberg